Zwei Abende in Berlin, zweimal im Freiluftkino gewesen, an zwei verschiedenen Orten, Mitte und Kreuzberg. Ohne dass es beabsichtigt war, beschreiben beide Filme gemeinsam ziemlich genau, worum es mir in „Geheime Fluchten“ geht.
Genialer Film über das Wesen der Genialität
Der geniale Dokumentarfilm von Andres Veiel über Joseph Beuys nimmt Beuys Konzept der „Selbstermächtigung zur Kreativität“ zum Dreh- und Angelpunkt. Jeder ist ein Künstler oder könnte es sein, wenn er denn kreativ leben wolle, sagt Beuys. Jeder ist ein Schriftsteller oder könnte es sein, wenn er oder sie bereit wäre, die eigene Geschichte niederzuschreiben, sage ich. Wir formen unsere Biografie und damit unsere Persönlichkeit durch das Erzählen.
Sind wir, was die anderen in uns sehen?
Aber sind wir nicht bloß das, was die anderen in uns sehen? fragt Daniel Kehlmann in „Ruhm“. Er konstruiert die Geschichte des Schauspielers Ralf Tanner, der sich als sein eigener Imitator ausgibt und schließlich nicht mehr in seine Villa, mithin sein Leben eingelassen wird, weil er bloß eine billige Kopie des „echten“ Tanner sei. In der nächsten Episode geht die Schriftstellerin Maria Rubinstein in einer ostasiatischen Steppe verloren, weil Pass und Handy ihr abgenommen wurden und nach Abfahrt ihrer Reisegesellschaft niemand mehr ihre „wahre“ Identität beglaubigen kann. Unser soziales Umfeld entscheidet über Leben oder Tod unserer Persönlichkeit, lautet Kehlmanns Botschaft.
Identitätskrise als Lebensform
So witzig und durchdacht diese Beispiele sind, sie berichten doch nur von kurzfristigen Identitätskrisen. Kehlmann kann es sich leisten, nicht zu schildern, „wie es weitergeht“, ob Maria Rubinstein sich dauerhaft als Putzfrau in der Steppe einrichtet oder Ralf Tanner mit einem Leben in der Hundehütte vor seiner Villa zufrieden ist. Sollte es nicht so sein, müssen diese Figuren tun, was alle Künstler täglich tun: Kämpfen, um die Behauptung der eigenen Identität aufrechtzuerhalten.
Beuys kämpft mit sich selbst im Sommer 1957 auf dem Bauernhof der Familie van Grinten. Er schließt sich tagelang in seinem Zimmer ein, spricht und isst nicht mehr. Im Film von Andres Veiel behauptet der Sohn van Grinten, seine Mutter habe Beuys aus dieser Depression gerüttelt, indem sie ernsthaft mit ihm gesprochen und ihm gesagt habe: „Große Begabung bedeutet große Verantwortung.“ Naja, so ähnlich. Auf jeden Fall: Der Superman-Satz. Womöglich leicht abgewandelt oder variiert.
Private und nationale Geschichte sind verwoben
Was Veiel nicht darstellt: Beuys hatte an dem Entwurf zu einem Auschwitz-Mahnmal gearbeitet, setzte sich also mit seiner Begeisterung für den Nationalsozialismus auseinander. Er war bereits 1936 als 15jähriger freiwillig der Hitler-Jugend beigetreten und hatte später in einem HJ-Orchester Cello gespielt, der mörderische Nationalsozialismus war somit das Umfeld, in dem Beuys seine kreativen Neigungen in Taten umsetzte und zugleich erste Liebschaften oder zumindest romantische Gefühle erlebte. Sein Entwurf für das Auschwitz-Mahnmal wurde abgelehnt, doch dies war nicht der Auslöser für die depressiven Verstimmungen.
Die hatten zweieinhalb Jahre zuvor begonnen, Weihnachten 1954, als seine damalige Herzensdame die Verlobung mit ihm gelöst hatte. Vergeblich versuchte Beuys, statt dieser Frau die ganze Welt von sich zu überzeugen: Er hatte keinen nennenswerten Erfolg als Künstler und war zweieinhalb Jahre nach der Trennung vom fruchtlosen Eifern ausgebrannt.
Die Welt hat sich geändert – aber nicht das Streben nach Bestätigung
Erfolg in der Liebe und Erfolg in seiner selbst gewählten sozialen Rolle als Künstler sind für Beuys untrennbar miteinander verbunden, genau so wie 60 Jahre später für die Heldin von Leyla Bouzids Film „Kaum öffne ich die Augen“. Bloß fehlt in der Geschichte über eine junge Rocksängerin kurz vor der tunesischen Revolution natürlich das deutsche Nazi-Element. Im Übrigen ist alles verhakelt wie bei Beuys: Nahezu zeitgleich das erste Konzert und die erste Liebesnacht. Die 18jährige Farah sucht nach ihrer Identität als Frau in einer patriarchal geprägten Gesellschaft. Ihr Kampf ist ein äußerer: Gegen Auftrittsverbote für ihre politisch engagierte Band, gegen Polizeigewalt. Aber auch ein innerer: Ihr Freund, der Bandleader, wird eifersüchtig, als Farah in einer Bar aufreizend tanzt. Später entschuldigt sie sich bei ihm dafür, ihn „gedemütigt“ zu haben. So sehr dieser junge Mann in seinen Songs für die Freiheit und Gleichheit aller Tunesier kämpft, seiner Freundin möchte er dann doch nicht ganz so viel Freiheit und Gleichheit zugestehen. Auch im Deutschland des Jahres 2017 ist es ein probates Mittel, die Freundin als „Schlampe“ zu bezeichnen, wenn sie von ihrer Wahlfreiheit beim Sexualpartner Gebrauch macht wie ein Mann oder mit provokanten Gesten darauf hinweist, dass sie dies tun könnte.
Genau dieser Beat treibt „Geheime Fluchten“ an
Beuys Suche nach Anerkennung als Künstler, Farahs Suche nach ihrer Rolle als Frau: In „Geheime Fluchten“ kommt beides zusammen. Ebenso vermischen sich Spielfilm und Dokumentation: Die Ich-Erzählerin im Roman kämpft gegen patriarchale Prägungen, ich kämpfe mit dem Self-Publishing des Romans um Anerkennung im Literaturbetrieb. Sind Leben und Literatur zu trennen? Welches Verhältnis hat das Erzählerinnen-Ich zu meinem „tatsächlichen“ Ich, zu der Elske, die in diesem Moment im ICE von Berlin nach Hannover sitzt? Nur eines weiß ich: Erotische Gefühle befeuern meine Suche nach Antworten.