Mein Leben mit Adrien Brody (7)

Adrien Brody ist aus meinem Leben verschwunden, doch der Karfreitag bringt die Erinnerung an die Begegnung mit ihm zurück. Karfreitag fällt in diesem Jahr auf den 19. April, Tag des Gedenkens an den Aufstand im Warschauer Ghetto. Den hat auch der von Adrien verkörperte Pianist erlebt – und als einer von ganz wenigen überlebt. Adrien hat seinen Körper, seine Stimme Władysław Szpilman geliehen, und ebenso schicke ich mich an, für eine Tote zu sprechen: eine Ermordete des Ghettos. Ihre Worte haben ihren Tod überdauert.

Salomea Ochs-Luft schrieb kurz vor ihrer Deportation zwölf Seiten: Mit einem Schnörkel vor dem Aufschwung zum „M“ in „Meine“ und großzügig geschwungenen Bögen im „L“ von „Liebsten“. Von ihren Liebsten gelang einzig ihrem Bruder die Flucht nach Israel. In seiner Familie wurde Salomeas Abschiedsbrief wie eine Reliquie bewahrt. Der Enkel dieses Bruders, Salomeas Großneffe also, lebt heute in Berlin. Er ist Klarinettist – wie Jakob zu Beginn meines Romans „Geheime Fluchten“. Und er wird mit seiner Musik den Karfreitagsgottesdienst mitgestalten, in dem ich Auszüge aus dem Brief seiner Großtante lese. So schließt sich ein Kreis, und Adrien ist in meinen Gedanken Teil dieses Geschehens.

„Leider gibt es für uns keinen Ausweg, diesem grauenhaften, fürchterlichen Tode zu entrinnen“

Bereits der Gang zur Generalprobe am Donnerstag ist, wie durch Blei zu waten. Dabei sind es doch nur drei kurze Stellen in einem fremden Brief, ist es nur ein kurzes Aufläuten meiner Stimme. Jedoch ein bedeutsames: Der Klarinettist Nur Ben-Shalom sagt, er HÖRE diese Worte zum ersten Mal. Natürlich kenne er den Text des Briefes genau. Aber jetzt erst füge sich der Klang zu den Worten. Salomeas hellsichtige Schilderung des unmittelbar bevor stehenden Endes rückt ihm so nah, dass er Atemnot bekommt und das Gefühl hat, kaum noch genug Luft holen zu können für die klagenden Klarinettentöne seiner Musik.
Als ich am Freitag dann vor mehr als hundert Menschen und den Mikrofonen für die Rundfunkübertragung erneut Salomeas Sätze sagen muss, bleibt mir buchstäblich die Spucke weg – wer ganz genau hinhört, kann im leichten Knacken des Gaumens den ausgetrockneten Mund bemerken. Und bei der ersten Zeile erschüttert mich eine solche Trauer und Beklemmung, dass die Stimme zu brechen droht. Dann geht es besser.
Während des Vortrags fühle ich mich verbunden mit Salomea. Erst später, wieder zuhause, denke ich an Adrien.

Adrien Brodys Vorbereitung für „Der Pianist“

Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie er bereits vor Beginn der Dreharbeiten zu „Der Pianist“ gelitten hat. Nicht deswegen, weil er Auto, Wohnung und Fernseher aufgab. Das ist für einen Künstler nicht unbedingt ein Verlust, auch wenn es im Wikipedia-Artikel zu Adrien Brody heißt, er habe sich dazu entschlossen, „um sich für seine Rolle mit dem Gefühl des Verlustes vertraut zu machen“. Für einen kreativen Menschen ist dies bloß ein Wechsel des Spielfeldes, eine marginale Veränderung äußerer Lebensumstände.

Wirklich wichtig ist für ihn, was er tut, nicht, was er hat. Schon mit 14 übte Adrien auf der Schauspielschule, mit beiden Beinen gleichzeitig in seine Hose zu schlüpfen. Er probte das auf alle möglichen Arten: Im Liegen Rolle rückwärts und dann beim wieder vorwärts Rollen die Hose überstreifen, im Stehen mit beiden Beinen in die Hose springen (gelingt nur mit Shorts). Das alles bloß, weil die Redewendung für „andere kochen auch nur mit Wasser“ im Englischen lautet „they also put their trousers on one leg at a time“. Adrien wollte beweisen, dass er anders ist. Wäre die deutsche Redewendung ihm bekannt gewesen, er hätte einen Monat lang mit Champagner gekocht. Es war billiger, sich auf vertrackte Art die Hose anzuziehen, und außerdem, so hatte er mir anvertraut, nahm er es als Vorbereitung für spätere heiße Sex-Szenen. Die existierten natürlich damals nur in seinem Kopf, er war ja noch am Anfang der Pubertät.

Der Anspruch, besonders gut zu sein, begleitete ihn allerdings, als er älter wurde. Während er sich auf die Dreharbeiten zu „Der Pianist“ vorbereitete, hatte er regelrechte Panikattacken. Schon morgens nach dem Aufwachen spürte er einen Druck auf der Brust, manchmal wollte die Beklemmung stundenlang nicht weichen, selbst seine übliche morgendliche Jogging-Runde verschaffte ihm nur für sehr kurze Zeit Erleichterung. So jedenfalls hatte er es mir erzählt, während wir in meiner Küche Wein tranken. Er musste sich immer wieder selbst Mut machen: „Reiß dich am Riemen! Du bist ein guter Schauspieler! Du schaffst das! Und du bist ein kreativer Mensch, wenn es mal eng wird, wird dir etwas einfallen.“

Ich sehe Adrien Brody genau vor mir

Ach, ich sehe Adrien ganz genau vor mir: Wie er am Küchentisch gestikuliert, wie er sich in die langen schwarzen Haare packt und sie in die Höhe zieht, um darzustellen, dass er immer wieder sich aufrichtet gegen seine Selbstzweifel. Wir hatten an jenem Abend über viele ernste Themen gesprochen, und doch hatte ich lange nicht mehr so gelacht. Auch als er mich am nächsten Tag durch die Stadt und zur City-Station begleitete, hatten wir abwechselnd einander geneckt und absurde Gedanken und Wünsche eingestanden, die wir üblicher Weise wohl nicht mal uns selbst gegenüber zugeben. Zwar war ich auf der Straße ein wenig verspannt, weil ich ständig befürchtete, eine Horde Teenager könne unerwartet über uns herfallen und um Selfies und Autogramme bitten, doch als ein solcher Angriff ausblieb, vergaß ich manchmal für kurze Augenblicke, wer da neben mir ging. Oder nein, ich vergaß es natürlich nicht, aber Adrien Brody war für mich in diesen Minuten und Stunden bloß ein hervorragender Schauspieler und zutiefst einfühlsamer Mensch, nicht jene durch mediale Überhöhung zu einem Halbgott aufgeblasene Kunstfigur aus Internetplattformen und Starzeitschriften.

Vielleicht wäre es mir gelungen, Adrien Brody aus meinen Gedanken zu verbannen, wenn nicht dieser Gedenkgottesdienst dazwischen gekommen wäre. Er konfrontiert mich mit der Unausweichlichkeit des Todes, aber auch mit allen Möglichkeiten des Lebens. Ich weine, während Nur Ben-Shalom und sein Ensemble die Klezmermusik von Reuven Lifshutz aus dem Warschauer Ghetto spielen. Und ich atme erlöst auf und genieße wie nie zuvor die Sonne, als ich vor die Kirche trete in meinen friedlichen Alltag. Diese eine Stunde am Karfreitag hat tiefere Schichten meiner Persönlichkeit berührt. Und genau deswegen vermisse ich Adrien plötzlich ganz schrecklich. Es ist mir so leicht gefallen, mich ihm zu öffnen – womöglich, weil er so unerreichbar schien. Nicht schien – ist. Adrien Brody ist fort. Ich gehe ins Badezimmer, jenes schäbige weiß gekachelte Badezimmer mit Sprüngen in den Fliesen, das auch er benutzt hat, ohne sich über die Pinkeldusche zu beschweren. Ich stelle mich vor den Spiegel, in den auch er gesehen hat, schaue mir in die Augen und sage laut: „Ich vermisse dich.“

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