Mein Leben mit Adrien Brody (5)

Ein Mittwoch Ende März, City-Station am Kurfürstendamm, 15.40 Uhr: Ich beuge mich über ein großes Holzbrett in der Küche und zerteile rote Paprikaschoten. Das Food-Sharing-Team vom Vorabend hat eine ganze Kiste voll geschenkt bekommen. Durch die offene Tür beobachte ich Adrien Brody: Er sitzt an der Theke und unterhält sich mit Helen, einer alt gedienten Ehrenamtlichen: Sie ist mindestens Mitte siebzig und irgendwie schon immer da.

Die Herzchenbrille hat Adrien abgesetzt, sie liegt auf dem Tresen. Helen sieht nicht so aus, als würde sie vor Ehrfurcht in Atomteilchen zerfallen, eher wirkt sie ein wenig genervt: Einige Fetzen ihres von einem starken Berliner Akzent platt gewalzten Englisch dringen zu mir herüber.

Helen hat noch nie von Adrien Brody gehört

Ich reime mir das, was ich da sehe, so zusammen: Helen ist im ersten Moment froh gewesen, die Floskeln aus ihrem Volkshochschul-Kurs Englisch bei einem echten Amerikaner anbringen zu dürfen. Adrien hat sich vermutlich nur als Adrien vorgestellt, und selbst, wenn er seinen vollen Namen genannt haben sollte: Was Hollywoodfilme betrifft, ist Helens persönliches Star-Lexikon womöglich seit John Wayne und Montgomery Clift nicht neu aufgelegt worden. Adrien ist seinerseits froh, auf jemanden zu treffen, der ihn nicht gleich anhimmelt und ein Autogramm verlangt, und textet Helen jetzt zu. Deren Volkshochschul-Kenntnisse sind Adriens Ausführungen nicht gewachsen, deswegen guckt sie wie bei der Zahnreinigung, wenn man zwar bereits die Hälfte hinter sich hat, aber weiß, dass es eine weitere halbe Stunde dauern wird.

„Sag mal Helen, das sind so viele Paprika, sollen wir die nicht anbraten? Roh sind die doch schwer verdaulich“, rufe ich durch die offene Küchentür. Helen blickt mich dankbar an und wechselt von der Theke in die Küche. Ich übernehme meinerseits ihren Thekenplatz.

Adrien Brody will Obdachlose gucken

„You’re sure you wanna stay?“, frage ich Adrien. Er setzt die Herzchenbrille wieder auf. „I am sure. I’d like to watch“, sagt er mit Piepsstimmchen und wackelt dabei affektiert mit dem Kopf wie eine Teenager-Britney Spears auf Speed. Dann erzählt er, dass er vor seinem Durchbruch mit „Der schmale Grat“ ziemlich ärmlich gelebt habe: Ungefähr eine Filmrolle pro Jahr, alles unbedeutender Independent-Kram. Wenn es ihm mal gelang, an einer großen Produktion wie Oliver Stones „Natural Born Killers“ teilzunehmen, bekam er da nur eine winzige Statistenrolle und wurde nicht mal im Abspann erwähnt.

Irgendwie hat Adrien es geschafft, nie den Glauben an sich zu verlieren. Ich frage mich, was dazu nötig war, und was eigentlich diesen viel beschworenen „Glauben an sich selbst“ von Wahnvorstellungen unterscheidet. Das ist doch auch nur ein schmaler Grat. Hier im Obdachlosen-Restaurant ist Johannes Bauer ein regelmäßiger Gast. Er sagt, er sei Verfassungsrechtler. Gewesen. Jetzt ist er fast blind, zudem schwerhörig, trägt eine beutelige graue Jogginghose und eine Schmutz verkrustete schwarze Daunenjacke. Dennoch umgibt Herrn Bauer eine Aura von Noblesse und höherer Bildung. Er hält sich gerade und geht langsam, aufrecht an seinem Stock. Betrachtet man nur Bauers Kopf, die kurzen grauen Haare und den ziemlich ordentlich gestutzten grauen Vollbart, so könnte man diesen älteren Herrn ohne weiteres für einen pensionierten Richter halten. Herr Bauer stinkt auch nicht wie so mancher anderer Obdachloser, ich vermute, dass er unter seiner Beutelhose eine Windel trägt, und das offenbart eine in seiner Situation bemerkenswerte Selbstfürsorge.  Johannes Bauer habe ich kennengelernt, weil er unbedingt ein Fax ans Gericht schicken wollte. „An welches Gericht?“ – „Ans Amtsgericht Berlin.“

Auf dem mit Schreibmaschine getippten Zettel erklärt Herr Bauer alle mit seinem Fall befassten Richter für befangen. Ich frage ihn: „Welcher Fall? Ohne Geschäftszeichen wird man ihr Fax in den Müll werfen. Wofür werden Sie belangt? Schwarzfahren vielleicht?“

Der Fall Bauer oder wie Hochmut hilflos macht

Ja, das wisse er eben nicht, sagt Herr Bauer. Bloß sei er schon zweimal von Polizisten abgeholt und in Haft genommen worden. Wofür, sage man ihm nicht. Deswegen erkläre er die zuständigen Richter für befangen. Es sei eindeutig ein Verstoß gegen die Grundrechte, ihn einfach abzuführen, ohne jede Erklärung. Dann zitiert Herr Bauer zwei Paragraphen aus dem Grundgesetz. Ich vermute, dass er sie korrekt erinnert, er scheint sehr intelligent und belesen. Aber er kreist in seinem eigenen Planetensystem, weit weg von den sozialen Gesetzmäßigkeiten der Erde. Lange Zeit habe ich geglaubt, Herr Bauer sei wirklich mal Juraprofessor gewesen, durch irgend einen persönlichen Schicksalsschlag aus der Umlaufbahn geworfen. Erst als er behauptete, er sei auch Chirurg, kamen mir Zweifel. Die Sozialarbeiter der City-Station könnten ihm nicht helfen, war Herr Bauer überzeugt, die würden nicht begreifen, wie in seinem speziellen Fall das Recht gebeugt und gegen seine Grundrechte verstoßen werde. Kurzum, die hätten schlicht weniger Ahnung als er: „Das ist ja so, als würden die mit einer Gartenschere kommen und mir als Chirurg erklären wollen, wie ich eine Operation durchzuführen habe.“

Tatsächlich können die Sozialarbeiter bei Herrn Bauer nicht viel machen. Deren Arbeit beginnt nämlich stets damit, dass sie den amtlichen Status eines Hilfsbedürftigen feststellen. Sie erkundigen sich nach der Krankenversicherung und nach Hartz IV. Und zuallererst nach dem Personalausweis – wenn der vorhanden ist, ist das schon mal eine gute Grundlage. Sozialarbeiter fahnden nach Dokumenten, denn die Verhandlungen mit Behörden laufen nun mal schriftlich. Bei Herrn Bauer nehmen wir alle an, dass er einen Ausweis hat und den bloß nicht vorzeigt. Überhaupt klagt er zwar einerseits vehement Hilfe ein, will beispielsweise, dass sein komischer Zettel „ans Gericht“ gefaxt wird – und da kann er ausgesprochen hartnäckig sein. Andererseits erklärt Herr Bauer nicht nur alle Richter Berlins für befangen, sondern rasch generell alle Menschen, die sich mit ihm befassen. Dann verweigert er das weitere Gespräch. Gartenschere oder Skalpell – niemand kann Herrn Bauer gegen seinen Willen einen Ausweis aus der Daunenjacke schneiden.

Plötzlich kommt mir eine Idee. Vor der Tür der City-Station hat sich bereits eine größere Menge unrasierter, schlecht gekleideter Männer versammelt nebst ein paar dicklichen Frauen mit Kopftuch. Gleich wird die Tür aufgeschlossen. „Adrien, I think I have a task for you – in case you would like to play a special role here and now.“

Mit wenigen Worten setze ich Adrien auseinander, er solle sich als Berater der New Yorker Senatorin Kirsten Gillibrand ausgeben und Herrn Bauer vorspielen, dass er wegen einer bestimmten Frage einen Spezialisten in deutschem Verfassungsrecht suche. Welche Frage, will Adrien wissen, aber ich sage, dass sei nicht wichtig. Es komme nur darauf an, dass er, Adrien Brody, glaubwürdig rüberbringe, großen Respekt zu haben vor Herrn Bauers fachlicher Kompetenz. Er solle irgendwie improvisieren. Und schließlich Herrn Bauer um seinen Personalausweis bitten. Vielleicht unter dem Vorwand, sich dessen Kontaktdaten aufschreiben zu wollen.

Adrien Brody spielt seine Rolle überzeugend

Als Helen die Restaurant-Tür aufschließt und ich in die Küche zurückkehre, bin ich fest überzeugt, dass mein hübscher kleiner Plan scheitern wird. Herr Bauer wird heute gar nicht kommen. Oder er kann kein Englisch. Oder er wird die billige Farce sofort durchschauen und das Gespräch abbrechen.

Eine halbe Stunde später weiß ich vieles besser. Herr Bauer hat seine Jugend auf einem Internat in Südschottland verbracht und spricht fließend englisch, hochnäsiger nordbritischer Akzent inklusive. Er heißt auch nicht Bauer, sondern laut Personalausweis Johannes von Grasnietzki. Ich vermute alten tschechischen Adel, aber das müsste ich noch genauer herausfinden. Auf jeden Fall haben die Sozialarbeiter der City-Station dank Adrien Brodys Einsatz nun eine Kopie von Johannes Personalausweis. Sein Besitzer hat feststellen müssen, dass er die Berater-Stelle bei der Senatorin in New York vorerst doch nicht bekommt, und ist verärgert von dannen gehumpelt – aufrecht, ungebrochen, von der Wut der Enttäuschung getragen schneller als üblich. Adrien hat die Herzchenbrille wieder aufgesetzt und ist ebenfalls verschwunden. Ich habe noch zwei Stunden Küchendienst und gehe davon aus, dass ich ihn nie wiedersehen werde.

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