Von der Aufmerksamkeitsökonomie

Es ist nicht die Brisanz des Inhalts, sondern die Existenz des Schlosses, die uns zu würdigen Menschen macht.
Das schreibt die Schriftstellerin Juli Zeh in einem Essay zum Thema Datenschutz: Sie erzählt von ihrem ersten Tagebuch, einer schönen altmodischen Papierblattsammlung Marke Poesiealbum mit einem kleinen Vorhängeschloss.

Viele denken, bei ihnen sei nichts zu holen

Solch ein Poesiealbum-Schloss hängt vor unserer Kellertür in Berlin, und meine Mitbewohnerin behauptet steif und fest, wir hätten es diesem Schloss zu verdanken, dass in unseren Keller als dem einzigen im gesamten Gruftgeschoss noch nicht eingebrochen worden sei: Jeder Einbrecher denke, wo so ein winziges Schloss vor der Tür hänge, da sei nichts zu holen.
Nun stehen in unserem Keller tatsächlich nur ein paar unbenutzte Blumentöpfe und halbvolle Eimer Wandfarbe, die noch nicht den Weg auf die Sondermülldeponie gefunden haben. Für einen Einbrecher ähnlich interessant wie die getrockneten Wiesenblümchen und die Wetterberichte in Juli Zehs erstem Tagebuch für einen treuen Juli-Zeh-Leser.

Künftiger Ruhm adelt vergangene Nichtigkeiten

Aber halt: Ist es für einen Fan dieser Schriftstellerin etwa nicht interessant, WIE sie als Achtjährige das Wetter beschreibt und WELCHE Blumen sie zwischen den blauen Kunstlederdeckeln presst? Sollte Juli Zeh eines Tages den Literaturnobelpreis bekommen, wird das Tagebuch nach ihrem Tod im Juli-Zeh-Institut aufbewahrt, und künftige Generationen von Literaturwissenschaftlern werden einen Zusammenhang konstruieren von dem zwischen Zehs Tagebuchseiten und ebenso auf brandenburgischen Getreidefeldern besonders häufig anzutreffenden Klatschmohn zu der Tatsache, dass der Juli-Zeh-Roman „Unterleuten“ in Brandenburg spielt. Oder sie werden die Schilderung eines Platzregens dahingehend interpretieren, dass die Schriftstellerin schon im zarten Alter von acht Jahren den Klimawandel vorausahnte.

Trends setzen, Blasen bilden

Sie merken: Juli Zehs These, es komme nicht auf die Brisanz des Inhalts, sondern auf das Vorhandensein des Schlosses an, hat in Zeiten von Fake-News eine Kehrseite. Prinzipiell kann nämlich jeder Inhalt brisant werden, wenn es mir gelingt, eine hinreichend große Menge von Menschen für eben diesen Inhalt, dieses Produkt zu begeistern. Würde ich in der Berliner Szene erfolgreich das Gerücht verbreiten, es gäbe eine simple und sichere Methode, aus alter Wandfarbe Chrystal Meth zu gewinnen, hätte ich in meinem Keller bald drei Einbrüche pro Tag, ganz gleich, welches Schloss ich an die Tür hänge. Es kommt eben doch auf die Brisanz des Inhalts an. Und dabei wiederum kommt es darauf an, welche Inhalte wir für brisant HALTEN. Meine Handy-Gespräche von der NSA abgehört? Interessiert keine Sau. Aber das Handy von Angela Merkel? Au weia weia wei.

Buhlen um Aufmerksamkeit

In „Geheime Fluchten“ tue ich so, als seien meine E-Mails und die intimen Details meines Sexlebens mindestens so interessant wie die Handygespräche der Kanzlerin. Was aber, wenn Leser sich, übersättigt von Pornos und Sexforen im Netz, überhaupt nicht mehr für intime Details interessieren? Wenn Charlotte Roche den vorhandenen Markt bereits gesättigt hat? Dann wäre all das Buhlen um Ihre Aufmerksamkeit, lieber Leser, schlicht umsonst. Denn ich habe als Schriftstellerin noch keinen Namen wie Maxim Biller zu dem Zeitpunkt, da er „Esra“ schrieb, ich bin noch nicht prominent wie Charlotte Roche, als sie „Feuchtgebiete“ veröffentlichte. Ich will durch das Buch und mit dem Buch bekannt werden. Und zugleich trägt dieses Buch den Titel „GEHEIME FLUCHTEN“! Bekannt werden mit etwas, das man geheim halten möchte, fliehen vor der Masse, um massenhaft Leser zu werben. Das kann ja was werden!

 

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